Sechstes Buch.
Ueber Substanz und Qualität

[119] 1. Ist das Seiende und die Wesenheit verschieden, und ist das Seiende losgelöst von den andern, die Wesenheit aber[119] das Seiende mit den andern, wie Bewegung, Ruhe, Identität, Verschiedenheit, und sind dies Elemente von jener? Das Ganze allerdings ist Wesenheit, jedes Einzelne aber an ihr theils Seiendes theils Bewegung u.s.f. Bewegung nun ist etwas accidentiell Seiendes; also auch wohl accidentielle Wesenheit, oder dient doch zur Vervollständigung der Wesenheit? Vielmehr, sie ist selbst Wesenheit und das Dortige ist alles Wesenheit. Weshalb denn nicht auch hier? Nun, dort ist es der Fall, weil alles eins ist, hier aber, da die Bilder individuell verschieden sind, ist das eine so, das andere so – wie im Samen alles zugleich und jedes einzelne alles ist und nicht die Hand besonders und der Kopf besonders, hier aber sind sie von einander getrennt – denn es sind Bilder und nichts wahres. Wollen wir nun die dortigen Qualitäten Verschiedenheiten der Wesenheit an der Wesenheit oder dem Seienden nennen, Qualitäten nämlich, welche andere Wesenheiten hervorbringen in Bezug auf einander, und überhaupt Wesenheiten? Das ist freilich nicht ungereimt, wohl aber wenn es von den hiesigen Qualitäten gesagt wird, von denen die einen Verschiedenheiten der Wesenheiten sind, wie das zwei – und vierfüssige, die andern aber nicht Verschiedenheiten sind und gerade deshalb Qualitäten genannt werden. Und doch wird ebendasselbe Verschiedenheit, wenn es die Wesenheit vervollständigt, an einem andern aber nicht Verschiedenheit, wenn es die Wesenheit nicht vervollständigt sondern Accidens ist. Z.B. das Weisse am Schwan oder am Bleiweiss vervollständigt die Wesenheit, an dir aber ist es Accidens. Oder das Begriffliche ist ein vervollständigendes und nicht Qualität, das an der Oberfläche ist ein Quale. Oder man muss das Quale zertheilen, das eine als wesenhaft, als eine Eigenthümlichkeit der Wesenheit, das andere als ein blosses Quale, demzufolge eine Wesenheit so und so beschaffen ist, indem das Quale keinen Uebergang in die Wesenheit oder aus der Wesenheit veranlasst, sondern an der bereits seienden und erfüllten einen äusserlichen Zustand der Wesenheit hervorbringt und nach der Wesenheit etwas hinzufügt, mag es nun an der Seele oder am Körper geschehen. Aber wenn auch das sichtbare Weisse am Bleiweiss zu seiner Vervollständigung dient – denn am Schwan gehört es nicht zur Vervollständigung, da es auch einen nicht weissen Schwan geben kann – so haftet es doch am Bleiweiss. Und auch am Feuer dient die Wärme zur Vervollständigung. Aber wenn jemand sagt, die feurige Eigenschaft sei die Wesenheit: verhält es sich analog auch beim[120] Bleiweiss? Jedenfalls gehört am sichtbaren Feuer die feurige Eigenschaft oder Wärme zur Vervollständigung, ebenso die Weisse am Bleiweiss. Dieselben Begriffe also werden vervollständigen und nicht Qualitäten sein, umgekehrt nicht vervollständigen und Qualitäten sein; und es ist ungereimt, die einen, welche vervollständigen, als etwas anderes zu bezeichnen, die andern aber nicht als etwas anderes, da es doch dieselbe Natur ist. Es ist also vielmehr zu sagen: die Begriffe, die sie hervorbringen, sind in ihrer Totalität wesenhaft [substantiell], die vollendeten Erzeugnisse aber stellen das, was dort Wesenheit [Substanz] ist, hier als eine Quale, nicht als Wesenheit dar. Daher gehen wir auch immer fehl, indem wir stets bei den Untersuchungen des Wesens der Dinge an der Wesenheit ausgleiten und in das Quale gerathen. Denn das Feuer ist nicht das, was wir so nennen, indem wir auf das Quale sehen; sondern dies sei zwar Wesenheit, was wir aber jetzt erblicken, bei dessen Ansehen wir von Feuer sprechen, führt uns von der Wesenheit ab und wird als Quale definirt, und zwar an den sinnlich wahrnehmbaren Dingen mit Recht, denn keins von ihnen ist Wesenheit sondern Affection derselben. Daraus entsteht auch die Frage, wie aus Nicht-Wesenheiten sich Wesenheit constituirt. Es wurde nun gesagt, dass das, was wird, nicht dasselbe sein darf wie das, woraus es wird; jetzt aber müssen wir sagen, dass auch das Gewordene nicht Wesenheit ist. Aber wie können wir sagen, dass die intelligible Wesenheit sich aus Nicht-Wesenheit constituirt? Wir werden sagen: die Wesenheit dort, indem sie im eigentlichen Sinne und unvermischt das Seiende hat, ist Wesenheit gewissermassen in den Unterschieden des Seienden, oder vielmehr sie wird mit dem Zusatz von Thätigkeiten Wesenheit genannt, wobei sie zwar eine Vollendung von jenem (dem Seienden) zu sein scheint, vielleicht aber durch den Zusatz und das nicht Einfache mangelhafter ist, da sie sich bereits von ihm entfernt.

2. Doch wir müssen hinsichtlich der Qualität betrachten, was sie überhaupt ist; vielleicht wird die gewonnene Erkenntniss unsere Zweifel mehr und mehr beschwichtigen. Zunächst nun müssen wir untersuchen, ob man als identisch setzen soll einmal das Quale allein, dann das Complement der Wesenheit, ohne daran Anstoss zu nehmen, dass das Quale das Complement der Wesenheit sei, richtiger wohl einer so und so beschaffenen Wesenheit. Es muss also bei der so und so beschaffenen Wesenheit die Wesenheit und das Wesen vor dem Quale sein. Was ist nun beim Feuer die Wesenheit vor der[121] so und so beschaffenen Wesenheit? Etwa der Körper? Dann wird der Körper Wesenheit sein, das Feuer aber ist warmer Körper und dies beides zusammen nicht Wesenheit, sondern das Warme ist so an ihm wie an dir das Stumpfnasige. Nimmt man nun die Wärme und das Glänzende und das Lichte weg, was doch Qualitäten zu sein scheinen, so bleibt anstatt des Feuers das Ding mit drei Dimensionen übrig und die Materie ist Wesenheit. Doch das ist schwerlich richtig, sondern die Form vielmehr ist Wesenheit. Aber die Form ist Qualität. Nicht doch, sondern die Form ist Begriff. Was ist nun das Erzeugniss des Begriffs und des Substrats? Nicht dasjenige was gesehen wird und brennt – dies ist aber ein Quale – man müsste denn das Brennen eine Thätigkeit aus dem Begriffe nennen, ebenso das Wärmen und Weissmachen u.s.w. Bethätigungen. Dann werden wir die Qualität nirgends unterzubringen wissen. Indessen man darf wohl das keine Qualitäten nennen, von denen es heisst, sie vervollständigen Wesenheiten, wenn anders sie Thätigkeiten sind, die von den Begriffen und wesenhaften Kräften ausgehen, sondern das vielmehr, was ausserhalb jeder Wesenheit ist, was nicht bald als Qualität bald wieder nicht als Qualität erscheint, sondern etwas für die Wesenheit Ueberflüssiges noch ausserdem hinzubringt wie Tugenden, Fehler, Laster, Schönheit, Gesundheit und diese oder jene Natur. Und Dreieck und Viereck sind an sich keine Qualitäten, wohl aber muss man das ›in Dreieckform gebracht sein‹ sofern es gestaltet ist als ein Quale bezeichnen, und zwar nicht die Dreieckigkeit, sondern die Gestaltung. Ebenso verhält es sich mit den Künsten und Fertigkeiten. Folglich ist die Beschaffenheit ein gewisser Zustand an den bereits seienden Wesenheiten, sei es ein hinzugefügter oder von Anfang an vorhandener, durch dessen etwaiges Nichtvorhandensein die Wesenheit in nichts beeinträchtigt würde.

3. Das Weisse an dir also darf man nicht als Qualität nehmen, sondern offenbar als eine Thätigkeit aus dem Vermögen des Weissmachens, ebenso alle sogenannten Qualitäten dort im Intelligiblen als Thätigkeiten, welche das Quale von unserer Meinung empfangen, weil sie lauter Eigenthümlichkeiten sind, die gleichsam die Wesenheiten von einander unterscheiden und unter einander ihren eigenthümlichen Charakter haben. Wie wird sich nun die dortige Qualität unterscheiden? Denn Thätigkeiten sind auch die hiesigen. Darin dass sie nicht angeben, wie beschaffen das einzelne Etwas ist, noch eine Veränderung der Substrate noch einen Charakter derselben,[122] sondern lediglich die sogenannte Beschaffenheit, welche dort Thätigkeit ist. Daher ist es einerseits, wenn sie eine Eigenthümlichkeit der Wesenheit hat, alsbald klar, dass sie nicht ein Quale ist; wenn aber der Begriff das an ihnen Eigenthümliche trennt, ohne es von dort wegzunehmen, sondern indem er vielmehr ein anderes nimmt oder erzeugt, so erzeugt er ein Quale, indem er gleichsam einen Theil der Wesenheit nimmt, der an seiner Oberfläche erscheint. Wenn dem aber so ist, so hindert nichts, dass auch die Wärme, weil sie mit dem Feuer verwachsen ist, eine Form des Feuers, eine Thätigkeit und nicht eine Beschaffenheit desselben ist, und andrerseits doch wieder eine Beschaffenheit, wenn sie nämlich allein an einem Andern erfasst nicht mehr Gestalt der Wesenheit ist, sondern bloss als Spur, als Schatten und Bild die Wesenheit von sich selbst zurücklässt, deren Thätigkeit sie ist. Was nun accidentiell ist und nicht Thätigkeit und Form, welche gewisse Gestalten von Wesenheiten darbietet, das ist ein Quale. So müssen auch die habituellen Eigenschaften und sonstigen Zustände der Substrate Qualitäten genannt werden, die Urbilder derselben aber, in denen sie ursprünglich sind, Thätigkeiten jener. Nun ist nicht dasselbe Beschaffenheit und nicht Beschaffenheit, sondern das von der Wesenheit Losgelöste ist ein Quale, das mit ihr Verbundene ist Form oder Thätigkeit. Denn nichts ist dasselbe in sich und einem Andern, wo es aufgehört hat Form und Thätigkeit zu sein. Was aber niemals Form eines Andern, sondern immer Accidens ist, das ist schlechthin Qualität und nur Qualität.

Quelle:
Plotin: Die Enneaden. Band 1, Berlin 1878, S. 119-123.
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